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AVIVA-BERLIN.de 9/20/5784 - Beitrag vom 12.09.2007


Christlicher Philosemitismus
Elisa Klapheck

Was macht man, wenn die jüdischen Schiurim, die Lernstunden, in Massen Christen anziehen, sich aber die Juden nur in spärlicher Zahl hintrauen? Ein Beitrag von Rabbinerin Elisa Klapheck




Neulich war ich wieder in einer solchen Situation, bei einem Workshop zum Thema "Teschuva" – zur jüdischen Auffassung von Umkehr anlässlich des Jom Kipur, des Sühnetages. Nun ist das jüdische Verständnis von Umkehr nicht zu verwechseln mit der christlichen Auffassung von Buße, denn der jüdische Sünder trägt nicht dieselbe Last der Schuld wie sein christlicher Mitmensch. Doch gefragt, was wir mit dem Wort "Teschuva" – Umkehr – verbinden, reagiert eine der anwesenden Christinnen sogleich mit Begriffen wie Schuld und Buße. Die wenigen anwesenden Juden im Raum – die meisten von ihnen haben ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Herkunft - schweigen betreten. Sie trauen sich aber nichts zu sagen, weil sie sich selbst in ihrem Judentum nicht sicher fühlen. Eine Jüdin flüstert ihrer Nachbarin zu, was wohl geschehe, wenn sie jetzt laut aussprechen würde, dass sie nicht an Gott glaubt. Die Nachbarin posaunt es prompt aus. Alle Juden im Raum lachen und pflichten ihr bei.

Tatsächlich ist Judentum kein Glaube – die jüdische Religion erwartet von ihren Mitgliedern nicht, dass man die Geschichten der Bibel glaubt, sondern vielmehr, dass man sie lebt, selbst erfährt und aus diesen Erfahrungen seine eigenen Lehren zieht – eine aktive und durchaus kritische Auseinandersetzung mit dem Text. Darin unterscheidet sich das Judentum vom Christentum. Es ist eine andere religiöse Technik.

Der Jom Kipur ist in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel. Es geht nicht um Buße, sondern um Sühne – im Sinne von Versöhnung: mit Gott, mit sich selbst und mit den anderen Menschen. Dem Menschen wird nicht grundsätzlich vorgeworfen, dass er nur ein Mensch – mit all seinen kleinen und großen Verfehlungen ist. Gegenüber Gott sind wir unvollkommen. Und das ist gut so – solange wir mit Feiertagen und Ritualen uns immer wieder unserer Grenzen, unserer guten und weniger guten Potentiale bewusst werden. Gesühnt werden am Jom Kipur keine großen Verbrechen, sondern vielmehr die kleinen Vergehen, mit denen man sich und anderen das Leben schwer macht. Verfehlungen, die jeder täglich begeht – Eifersucht, Neid, üble Nachrede, Missgunst, Verrat. Man gibt all dies an Jom Kipur zu – im Wissen, auch künftig fehlbar zu bleiben – aber doch mit der Chance, sich und sein Leben zumindest ein bisschen zu verbessern. Am darauffolgenden Tag fängt die Normalität wieder an – und mit ihr all die Verstrickungen in die guten und weniger guten Absichten. Mal sehen, ob man sie in dem neuen Jahr besser meistert. Aber man muss deshalb nicht schwere Schuldgefühle auf sich laden und große Bußleistungen aufbieten. Einfach leben und versuchen, es besser zu machen - und beim nächsten Jom Kipur erneut eine seelische Bilanz ziehen.

Das hebräische Wort "Chet" wird meist mit "Sünde" übersetzt. "Fremdgehen" wäre besser. Man ist sich selbst fremdgegangen – und damit den anderen Menschen und Gott. Man hat Chancen verpasst, Möglichkeiten ausgeschlagen, andere Menschen abgewiesen, Mauern aufgebaut und damit das Leben betrogen. Die "Teschuva" an Jom Kipur ist die Umkehr. Es geht darum, die inneren Pforten wieder zu öffnen – das Mögliche möglich zu machen, zurückzukehren – zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zu Gott. Man tut dies sowohl individuell, als auch kollektiv. So sühnt nicht nur der Einzelne, sondern die ganze Gemeinschaft. Somit appelliert Jom Kipur an jeden Einzelnen, nicht nur für sich selbst, sondern für die ganze Gemeinschaft mit verantwortlich zu sein.

Das Fasten an diesem Tag dient nicht der Buße, sondern der Freiheit. Es ist keine Selbstbestrafung, sondern eine Methode. Alle materiellen Belastungen fallen ab – es entsteht ein Gefühl der Leichtigkeit und damit der Fähigkeit, die Welt und die Menschen wieder neu zu sehen. Gerade bei den Schlussgebeten – beim Ne´ilah – vor dem Fastenbrechen, herrscht keine bedrückte Stimmung in der Synagoge, sondern hebt sich die Stimmung zu immer unbeschwerterer Heiterkeit, bis man am Ende siebenmal die Souveränität Gottes deklamiert und diese noch einmal mit einem langen Schofar-Ton bekräftigt.

Der jüdische Festtagszyklus gleicht einer Psychotherapie mit verschiedenen Momenten, die den Menschen immer wieder befreien und seelisch stärken sollen. Christliche Auffassungen von der unentrinnbaren menschlichen Schuld und der zu jeder Zeit von Gott geforderten Buße – gehen daher daneben, wenn sie den Sinn von "Teschuva" – Umkehr - zu beschreiben versuchen.

Aber wie will man das den Christen klarmachen – vor allem, wenn sie in einem solchen Schiur zum Thema "Teschuva" in der Mehrheit sind, begeistert mitmachen, den Ton angeben und – ohne es zu merken – den Juden erklären, wie diese ihr Judentum durch die christliche Brille zu sehen haben.

Zu gerne wüsste ich, was in solchen Christen vorgeht. Wollen sie damit ihre Solidarität mit den Juden ausdrücken? Fühlen sie sich selbst eher als Juden, denn als Christen – und meinen, sich bereits auf dem Weg ins Judentum zu befinden? Oder geht es unbewusst um einen Machtanspruch, der verlangt, dass die Minderheit die ohnehin schon dominante Mehrheit integriert, damit diese weiterhin das Sagen hat?

Meine Bitte daher an alle judentumsbegeisterte Christen: Wenn Ihnen das Judentum so gut gefällt, dann integrieren Sie doch die Elemente, die Ihnen so gut gefallen ins Christentum. Denn ich wünsche mir interessante, herausfordernde und inspirierende Christen als Gesprächspartner. Aber ich reagiere allergisch auf Christen, die in ihrer Begeisterung für das Judentum gar nicht merken, wie sie die jüdischen Schiurim und mitunter auch die Gottesdienste mit christlichen Denkstrukturen bestimmen und damit Juden von ihrem Judentum fernhalten.


Mehr zu Rabbinerin Elisa Klapheck im Interview mit AVIVA-Berlin von 2004.
Lesen Sie auch unsere Rezension zu Elisa Klaphecks Buch So bin ich Rabbinerin geworden.



Jüdisches Leben

Beitrag vom 12.09.2007

AVIVA-Redaktion